Bericht als Berichtigung - Balthasar Sprengers Indienfahrt

Beate Borowka-Clausberg


In: Bott, G.; Willers, J. (Hrsgb.): Focus Behaim-Globus. Referate des internationalen Kolloquiums im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg - 5.4.-6.4.1990, Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Nürnberg, April 1991.


"Am Anfang war das Gewürz"
Stefan Zweig: Magellan

Mit der Literarizität der frühneuzeitlichen Reiseberichte tut man sich in der germanistischen Forschung immer noch recht schwer (1). Sie wurden primär als kulturhistorisch interessante Quellen, als Zeitdokumente gesehen und ausgewertet, selten aber als literarische Produkte. Vielleicht sind die Gründe dafür in der vermeintlichen Kunstlosigkeit von Aufbau und Form, die sehr oft den spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Texten anhaftet, zu suchen. Die Beurteilungskriterien für die ästhetische Qualität eines Textes dürfen sich aber nicht mehr an vorausgegangenen Mustern orientieren, wie sie z.B. für das mittelalterliche Epos galten, weil die althergebrachte Forderung des 'prodesse et delectare' ihren Schwerpunkt auf das 'prodesse', das Nützliche, verlagerte. Der Zweck der Prosa war daher nicht mehr so sehr ästhetischer Genuß, sondern vor allem Wissensvermittlung. Umgekehrt kann behauptet werden, daß Entdeckungsberichte nicht allein zur Sachinformation, sondern auch zur Erbauung gelesen wurden (2). Dieser Chiasmus offenbart die wechselseitige Abhängigkeit beider Aspekte voneinander. Scheinbar fehlende ästhetische Kriterien mußten Erbauung nicht unbedingt ausschließen, wie auch Erbauung trotz ästhetischer Kriterien stattfinden konnte. Zum anderen liegt in der Interdisziplinarität, die der Reisebericht geradezu herausfordert, eine andere problematische Hürde für die germanistische Literaturwissenschaft: 'Eine rein philologisch und poetologisch orientierte Fragestellung kann zwar durchaus gewisse Ergebnisse erzielen, kaum aber den Besonderheiten der Gattung wirklich gerecht werden. Das ist nur möglich, wenn sie in den Zusammenhängen gesehen wird, aus denen heraus sie entstanden ist - in den Zusammenhängen literarischer, philosophischer und überhaupt geistesgeschichtlicher, zudem sozialhistorischer, politischer, naturwissenschaftlicher, ethnologischer, anthropologischer und verwandter Entwicklungen im europäischen Kontext' (3). Der Reisebericht vereinigte in sich all diese Tendenzen; eben darin liegt seine Besonderheit gegenüber anderen Gattungen. Man kann in ihm ein Stück Sachprosa oder Gebrauchsliteratur sehen, die auf die Erweiterung des Wissenshorizonts erheblichen Einfluß hatte. Der Gebrauchsliteratur in solchem Sinne ist auch Balthasar Sprengers Indienfahrt (4) zuzurechnen. Sprenger gehört in die Reihe der frühen, merkantil motivierten Entdeckungsreisenden, die neue Kenntnisse über den Orient verbreiteten und vielleicht auch dazu beitragen wollten, den mittelalterlichen Wissensstand zu revidieren und zu berichtigen. Sein Tatsachenbericht wurde somit vor allem zum Träger von neuartigen Informationen. Die literarische Form seiner Veröffentlichung steht in der Tradition alter Reiseberichte und erinnert in ihrer Gottesfrömmigkeit insbesondere an Pilgerberichte vergangener Zeiten; sie muß deswegen jedoch nicht gleich dieser Gattung zugeordnet werden.

'Die Merfart unn erfarung nüwer Schiffung und Wege zu viln onerkanten Inseln und Künigreichen/ von dem großmechtigen Portugalischen Kunig Emanuel Erforscht/ funden/ bestritten unnd Ingenomen / Auch wunderbarliche Streyt/ ordenung/ leben wesen handlung und wunderwercke / des volcks und Thyrer darin wonende/ findestu in diessem buchlyn wahrhaftiglich beschryben und abkunterfeyt/ wie ich Balthasar Sprenger sollichs selbs: in kurtzverschynen zeiten: gesehen und erfaren habe.'

So lautet der Anfang seines Reiseberichts. Denkt man daran, wohin ihn die Reise führte - nach Indien, wäre es nicht verwunderlich, von seltsamen Gestalten und anderen Kuriositäten zu hören. Indien und das Paradies sind zwei Vorstellungen, die in der mittelalterlichen Literatur nicht voneinander loskommen. Wie Magneten hingen sie aneinander, beeinflußten das Denken und hinterließen ihre Spuren in der Dichtung. Die Ausrichtung des mittelalterlichen Weltbildes auf den heiligen Osten, wo am Anfang der Zeit das Paradies seinen Ort hatte, ließ den Blick über das bitter umkämpfte und dann verlorene Heilige Land hinweg in ungetrübte Fernen schweifen. Indien wurde zum Sammelbecken alter und neuer Erwartungen. Es schien so wunderbar, so voller Fabelwesen, voller Reichtümer, so anders als alles bisher Gekannte zu sein, daß es sich geradezu aufdrängte, entdeckt und in Besitz genommen zu werden. Die antiken Indienvorstellungen, wie sie Herodot, Plinius und andere der Nachwelt überlieferten, der mittelalterliche Alexandermythos und die Suche nach dem sagenumwobenen Priesterkönig Johannes, auch das Herzog-Ernst-Epos mit seinen märchenhaften Schilderungen, hatten das Orientbild in der Literatur und in den Köpfen der Menschen geprägt. Erst das Zeitalter der Entdeckungen sollte neue Bilder als Dokumente des Gesehenen gegen die alten eintauschen. Der daraus resultierende Umbruch hatte eine kritische Überprüfung der bisher als sicher geltenden Kenntnisse zur Folge. Doch nicht sofort konnte der real existierende Weltball, der nun das Blickfeld der Phantasie füllte, die Wundersucht des Mittelalters kurieren. Die langgeübte Textgläubigkeit ließ nicht zu, daß antike Autoritäten mit einem Schlag diskreditiert und verdrängt wurden (5). In den nach 1500 erschienenen Kosmographien, z.B. Sebastian Münsters Indienschilderung, wurden die antiken Vorlagen und Quellen mitnichten korrigiert, sondern weitergesponnen. Um so überraschender nimmt sich Balthasar Sprengers Bericht vor dem Hintergrund dieser hartnäckigen Tradition aus.

Am 23. März des Jahres 1505 ging Balthasar Sprenger als Vertreter der Welser und im Auftrag des Portugiesischen Königs Emanuel in Rostal, unweit Lissabons an Bord der Leonhard. Gut anderthalb Jahre später, am 15. November 1506, erreichte er wieder Lissabon. Von dort ist er vermutlich nach Deutschland zurückgekehrt, wo 1509 seine 'Merfart' - wahrscheinlich in bewußter Anlehnung an populäre Reiseberichte wie die von Mandeville und Marco Polo - bei Jakob Köbel in Oppenheim gedruckt wurde (6). Fabulöse Orientvorstellungen fehlten in diesem Reisebericht; aber er war auch nicht allein von utilitären, handelspolitisch-kaufmännischen Gesichtspunkten geleitet. Zunächst und vor allem war es eine getreue Augenzeugenschilderung der gesehenen Länder und Völker. Die Erfahrung der Reise selbst, als Bewegung in Zeit und Raum, war zum Gegenstand des Erzählens geworden, wie auch die Erschließung der realen Räume sich zum subjektiven Erlebnis formte und gerade deswegen mitteilenswert erschien. Die wahrhaftige - hier liegt die Betonung - Beschreibung des Erlebten und Gesehenen, wie Sprenger sie vorführte, wurde gleichsam zum Sinn und Zweck seiner Reise (7). Es ist bekannt, daß die Reise im allgemeinen nicht nur ein literarisches Motiv, sondern von weltgeschichtlicher Bedeutung, als die Erfahrung von Welt und gleichzeitig ihre Eroberung und Veränderung war (8). Die Entdeckungs- und später die Handelsfahrten lassen ahnen, mit welch erstauntem Blick die neuen Räume aufgenommen und durchmessen wurden.


Abb.1 Genna: ganzseitige Holzschnitt-Illustration aus Balthasar Sprengers Indienfahrt, der sog. grossen Indienfahrt von 1509

'Der Raum selbst', um mit Foucault zu sprechen, 'hat in der abendländischen Erfahrung eine Geschichte, und es ist unmöglich, diese schicksalhafte Kreuzung der Zeit mit dem Raum zu verkennen. Um diese Geschichte des Raumes grob nachzuzeichnen, könnte man sagen, daß er im Mittelalter ein hierarchisiertes Ensemble von Orten war: heilige Orte und profane Orte; geschützte Orte und offene, wehrlose Orte; städtische und ländliche Orte: für das wirkliche Leben der Menschen. Für die kosmologische Theorie gab es die überhimmlischen Orte, die dem himmlischen Ort entgegengesetzt waren; und der himmlische Ort setzte sich seinerseits dem irdischen Ort entgegen. Es gab die Orte, wo sich die Dinge befanden, weil sie anderswo gewaltsam entfernt worden waren, und die Orte, wo die Dinge ihre natürliche Lagerung und Ruhe fanden. Es war diese Hierarchie, diese Entgegensetzung, diese Durchkreuzung von Ortschaften, die konstituierten, was man grob den mittelalterlichen Raum nennen könnte: Ortungsraum' (9). Dieser Ortungsraum hat sich mit Beginn der großen Enfdeckungsfahrten geöffnet: Unbekannte Kontinente und neue Wege in bekannte Länder wurden gefunden. An die Stelle der Ortung trat die Ausdehnung. Nicht mehr der Kreuzzug, sondern der Fernhandel bot dafür die nötigen Voraussetzungen. Das Schiff avancierte zum Kommunikationsmittel par exellence. Foucault nennt es 'ein schaukelndes Stück Raum..., ein Ort ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen ist und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert... und der von Hafen zu Hafen, von Ladung zu Ladung,... bis zu den Kolonien suchen fährt, was sie an Kostbarstem in ihren Gärten bergen' (10). Das Schiff war also nicht nur das größte Instrument der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch das größte Imaginationsarsenal. Dieser in sich abgeschlossene Raum, dieser Mikrokosmos, wurde nun zum Sammelpunkt der Erlebnisse. Vom Schiff aus hat auch Sprenger beobachtet, erlebt, gelitten und seine Erfahrungen reflektiert.

Sprengers Bericht dreht sich nicht so sehr um Vorgegebenes oder Erwartetes, sondern um das tatsächlich Existierende. Er beschrieb ganz offenkundig persönliche Erlebnisse und historische Ereignisse (11). Der Verlauf in Stichworten: Die Reise begann in Antorff (Antwerpen). Zwischenstation war Rostal, eine Meile von Lissabon entfernt; von dort stach man in See nach Indien. Gleich zu Anfang der Reise hatte Sprenger seine erste Begegnung mit der für ihn unbekannten subtropischen Meeresfauna: 'ein wunderbarlich grausamlicher fisch' tauchte beim Auslaufen in der Hafenmündung auf; und wenige Tage später ein zweiter schweinsförmiger Fisch, der schließlich als willkommene Ergänzung des Speisezettels endete: '... uff den andern tag der do was des XXVii. der Mertzen Schossen die Schiffleut ein/ onbekanten seltzamen Fisch in der Cost im Spangen Sehe/ den sie ein Dürschin nanten der was folligklich eins mans langk gleicher gestalt einem Schwein das ongeverlich fyer guldin bei uns werdt/ und het der fisch: als eyn Eber am hyndern teil seins leibs: ein groß geschröd/ und vorn an seynem mund ein Schnabel geleich eim Fogel doch einer breitern form: und in seinez maul vil kleiner scharpffer zene/ Mit diessem fisch wurden gespeißt inn einem tag Hundert und sechsundtzwentzig menschen do von ich selber gessen und gespeißt worden bin' (12). Für Sprenger war es ein völlig neuer Eindruck, ein erster Vorgeschmack jener Fremde, die ihn erwartete. Die Flotte segelte weiter, an den Kanarischen Inseln vorbei, bis sie am 7. April 1505 die Stadt 'Byssegiela' (Bezequiche, bei der Insel Gorée am Kap Verde) im 'Morenland' erreichte. Sprenger beschrieb detailliert seine Eindrücke: Menschen, ihre Häuser, ihre Kleidung und Lebensart. Es sind nüchterne Beobachtungen, die der Realität entsprachen, frei von phantastischen Ausschmückungen: 'Wir sahen auch in diessez Kunigreich und Inseln wunderbar onschamhafft menschen beyderlei geschlecht undereinander als die wilden Thyr: etlich allein die Scham bedecken/ die andern nackend/ all schwartz als die wir bei uns Moren nennen umblauffen: der Moren land sich auch da anheben: Ire wonungen und hüser gleichen sich den hütten als die armen dorfleut in unsern landen über die backöffen machen: welch hüser die inwoner noch irem willen tragen wo hyn sie zu wonen lust haben In diessen Inseln und landen ist uberflüssigklich vil fychs/ klein und feißt von leibe'. Er sieht einen ungewöhnlichen Baum, es ist der Affenbrotbaum, und vergleicht seine Früchte mit Kürbissen. Die weitere Fahrt zum Kap der Guten Hoffnung fand er eintönig. Sie sahen 'weder fisch noch keinerlei creaturen, nur wiltniß und eynöde', in der sie Kälte und Regen erwartete. Sprenger verglich diese Wetterverhältnisse mif dem deutschen Winter. Am 19. Juli erreichten die acht Schiffe Kilwa (an der Küste Kenias). Die Stadt wurde eingenommen und geplündert, weil sich ihr König weigerte, den Fremden Tribut zu zollen. Im August ging die Fahrt weiter nach Mombasa, auch dort fanden Kämpfe statt. Mit Beute beladen segelten die Eroberer über Melinde nach Indien. In Ammor (Onor) und Gotschin wurde mit Erfolg gekämpft und Handel getrieben; das Ergebnis: vier mit Pfeffer beladene Schiffe. Am Weihnachtsabend 1505 kam das Geschwader in Cananor (in der Nähe von Calicut) an, wo nochmals Gewürze und Pfeffer geladen wurden. Im Januar trat man die Rückreise an; sie führte über Mosambik wieder zum Kap der Guten Hoffnung, an Acencion und St. Helena vorbei nach Lissabon, wo Sprenger am 15. November wieder europäischen Boden erreichte.

Sprengers Bericht schließt mit einigen ethnographischen Bemerkungen über Afrika und Indien, die etwas Neues ankündigten und von einer realistischeren Sicht zeugten. Seine relativ umfangreichen Nachrichten über die Kapverdischen Inseln sind die ersten ihrer Art überhaupt und damit 'quellenmäßig von Bedeutung' (13). Interessant für Sprengers Beobachtungs- und Beschreibungsform ist die Tatsache, daß er selbst höchstwahrscheinlich das Festland gar nicht betreten hatte. Lediglich aus der Schiffsperspektive wurde das fremde Land gesehen: 'Alles, was er vom Schiff aus beobachten konnte, beschreibt er richtig und bilderreich' (14). Aus ethnohistorischer Sicht sind die Aussagen Sprengers über die afrikanischen Küsten nur von 'mittelmäßiger Bedeutung. Für den südafrikanischen Raum aber stellen Springers Nachrichten Primärquellen von außerordentlichem Rang dar. Sprenger gibt als erster einen umfassenden Bericht über die Kultur einzelner Gruppen der Kaphottentotten. Er beschreibt Kleidung, Schmuck, Waffen, Haartracht, Sprache, Obdach u.v.a. mit bewunderungswürdiger Genauigkeit. Seine Aussagen sind, werden sie durch zeitlich vor und zeitlich nach 1506 liegende Quellen überprüft, als absolut wahrheitsgetreu zu bezeichnen und werden durch die Holzschnitte Hans Burgkmairs in beachtlicher Weise gestützt und vervollkommnet' (15).

Sprenger bediente sich einer Präsentationsform, die seinerzeit neu und erst im Entstehen war: Sein Reisebericht verzichtete auf Fiktionen und Phantastereien, blieb also soweit es überprüfbar ist, wahrheitsgetreu. Wo er irreführende Aussagen macht, sind diese lediglich ein Zeichen von Unkenntnis, die er auch offen zugibt: 'inn dyesser gegene lygen vil ander Kunigreich der namen mir onkundig'. Wie wir wissen, waren nicht alle Berichte aus exotischen Ländern in ihrem Verhältnis zur Wahrheit ungebrochen. Da viele dieser Beschreibungen nicht allein zur Sachinformation, sondern auch zur Erbauung geschrieben wurden, war die Versuchung, sie mit schönen, unglaublichen Geschichten auszuschmücken, sicherlich groß. Sprengers Text hingegen ist durch die Chronologie seiner persönlichen Erfahrung und Beobachtung strukturiert. Er vermittelte wohl schon seinen Zeitgenossen den Eindruck einer Berichtigung etablierten Wissens; konkret, einer Richtigstellung fabulöser Vorstellungen.

Die Begriffe Bericht und Berichtigung, die Sprenger selbst nicht benutzte, scheinen mir für die Kennzeichnung seiner Schreibweise gut geeignet; sie sind auch etymologisch miteinander verschränkt (16). Im Mittelhochdeutschen bedeutet 'berihten' eigentlich richtig machen. Gibt jemand Bericht über etwas, so kann dies gleichzeitig eben auch heißen: er stellt etwas richtig, berichtigt vorhergehende Informationen. Im Frühneuhochdeutschen wurde 'berichten' auch im Sinne von berichtigen gebraucht: 'da würde man keiner rechtbücher noch gericht, noch klage dürfen, ja alle sachen würden schnell bericht und schlecht' (Martin Luther) (17). Erst im 18. Jahrhundert bildet sich in der deutschen Sprache das Verb berichtigen, nach dem französischen rectifier, corriger. Gerade in Balthasar Sprengers Reisebericht findet die etymologische Verknüpfung der Worte Bericht und Berichtigung ihre Bestätigung, denn der Text sollte nicht von erfundenen Dingen Kunde geben, sondern beschreiben, was tatsächlich gesehen wurde: 'findestu in diessem buchlyn wahrhaftiglich beschryben und abkunterfeyt/ wie ich Balthasar Sprenger sollichs selbs: in kurtzverschynen zeiten: gesehen und erfaren habe.' So ist die 'Merfart' nicht nur auf einen geographischen oder ethnologischen Inhalt reduziert und vom phantastischen Beiwerk befreit, sondern besitzt durch ihre autobiographische Erzählposition auch einen neuen und anderen Charakter von geographischer Erfahrung. Es stellt sich hier die Frage, ob Sprenger wirklich das gelehrte Wissen, das Toposwissen, fehlte oder ob er es ganz einfach ignorierte, weil einzig und allein seine Beobachtung ihn auf etwas Neues, vorher so noch nicht Gesehenes aufmerksam machte?

Seine Indienfahrt erschien in zwei Varianten, einmal in der literarisierten Form, als die 'große Indienfahrt' 1509 mit Illustrationen (Abb. 1 ) und bereits 1508 (Abb. 2 und 3), als eine Serie von Holzschnitten, die von Hans Burgkmair in Augsburg angefertigt und mit Sprengers Text versehen wurden. Gerade diese Publikationsform bestärkt und unterstreicht die These der Berichtigung etablierten Wissens. Sie will nicht nur mit Worten beschreiben, sondern diese selbst bildnerisch verstärken, die Situation des Betrachters nochmal vor Augen führen und auf diese Weise das Gesehene dokumentieren. Die Illustrationen gingen sogar über das Beschriebene hinaus und bezogen sich wahrscheinlich auf mündliche und briefliche Aussagen Sprengers (18). Natürlich wirkten sie nicht minder exotisch und fremd, waren jedoch frei von jedwelchen Monstern der Antike und des Mittelalters. In ihrer Exaktheit erhoben sie zudem den Anspruch auf Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit. Als irreführend und die Glaubwürdigkeit der Sprengerschen Aussagen bezweifelnd, hat sich vor allem eine Illustration der flämischen Ausgabe von 1520 (Abb. 4) erwiesen (19). Die darauf dargestellten Menschen sind aufgrund ihres Kopfschmucks als Indianer zu identifizieren und somit dem neuentdeckten 'Westindien' zuzurechnen. Diese Illustration ist keiner der Sprengerschen Ausgaben entnommen, hat also mit seiner 'Merfahrt' nichts zu tun. Sprengers, bzw. Burgkmairs Bilderbericht hält sich an die Realitäten, zeigt Szenen aus den tatsächlich besuchten Gegenden und kann aus diesen Gründen auch als 'Grundlage einer neuen Bildersprache verstanden werden', die erst am Anfang ihrer Entwicklung stand (20). Der ikonographische Aspekt läßt sich von dem literarischen nur schwer trennen, beide bezeugen den neuen Sinn solcher Reiseberichte.

Dieser Beitrag ist ein Versuch, Sprengers Bericht von der literaturwissenschaftlichen Seite zu betrachten und vorzustellen. Er soll deswegen nicht gleich zum Kunstwerk, im Sinne Lessingschen Stilgesetzes, zu kompositorischer Vollkommenheit erhoben werden, sondern das Zeugnis einer Prosa sein, die wahrhaftig erzählen kann. Die Erzählung erhebt in diesem Fa1l für sich den Anspruch, die Wahrheit nicht ausschließen zu wollen oder zu müssen. Sprengers Bericht - es ist eigentlich der Bericht eines Kaufmanns - dreht sich nicht um den Handel, sondern um die Erlebnisse während einer ungewöhnlichen Reise ins ferne Indien. Aus seiner Beschreibung ist wohl zu ersehen, daß es ihm nicht einfach um die Dokumentation für handelspolitische Zwecke ging, denn über die merkantilen Aspekte jener Reise erfahren wir von Sprenger recht wenig; viel aufschlußreicher sind da die Berichte von Lukas Rem und Hans Mayer. Es scheint, als habe Sprenger etwas ganz anderes beabsichtigt. Er wollte an dem Ruhm teilhaben, einer der ersten und wenigen Deutschen gewesen zu sein, die 'India suchten' (21) .


Abb.2 In Gennea: Eingeborene von Guinea. Hans Burgkmair, Holzschnitt zu Balthasar Sprenger: Indienfahrt 1508.
Linke Haelfte eines zweiszenigen Bildstreifens


Abb.3 Der Kunig von Gutzin.
Holzschnitt von Hans Burgkmair zu Balthasar Sprengers Indienfahrt, 1508. Rechte Haelfte


Abb.4 Kannibalenfamilie mit Indianerkopfschmuck;
Holzschnitt aus: De Novo Mondo, Antwerpen, Jan van Doesborch, um 1520

Fußnoten

(1) Diese Problematik verdeutlicht besonders gut Peter J. Brenner in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Sammelbandes: Der Reisebericht. Frankfurt a. M. 1989, S. 7, wo auch er feststellt, daß 'die germanistische Literaturwissenschaft... bis in die Gegenwart den Anspruch des Reiseberichts kontrovers diskutiert, in das Gefüge des Gattungskanons aufgenommen werden zu dürfen.' Freilich gilt das nicht für das 18. Jahrhundert, 'dessen Reiseliteratur inzwischen sehr gut erschlossen ist. Dies allerdings um den Preis der Vernachlässigung großer Teile der anderen Tradition der Gattung...'(S. 7f.). Das hier behandelte Thema ist Teil meiner literaturwissenschaftlichen Dissertation über Balthasar Sprenger und den frühneuzeitlichen Reisebericht.

(2) Vgl. Wolfgang Neuber: Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik. In: P. J. Brenner (Anm. 1), S. 51 .

(3) P.J. Brenner (Anm. 1), S. 8.

(4) Der Text dieser exotisch abenteuerlichen Indienfahrt ist in mehreren Ausgaben/Varianten überliefert: Zwei Exemplare liegen in lateinischer Sprache vor, eines davon ist handgeschrieben. Von der handschriftlichen lateinischen Version ist laut Schulze (Franz Schulze: Balthasar Springers Indienfahrt 1505/06. Wissenschaftliche Würdigung der Reiseberichte Springers zur Einführung in den Neudruck seiner 'Meerfahrt' vom Jahre 1509, Straßburg 1902) nur das Exemplar in der Gießener Universitätsbibliothek erhalten, allerdings ohne Namen des Verfassers, ohne Orts- und Jahresangabe. Die Druckversion des lateinischen Berichts ist in Paris 1724 im zweiten Band der 'Voyage littéraire de deux religieux Bénédictines de la congrégation de S. Maur' unter dem Titel: 'Iter indicum' erschienen. Außerdem ist noch eine flämische Ausgabe bekannt, die jedoch nicht sofort als eine auf der lateinischen Version Sprengers basierende Fälschung erkennbar ist. Angeblich soll Vespuccius ihr Verfasser gewesen sein.Die 'große' deutsche Ausgabe wurde 1509 unter dem Titel: 'Die Merfart unn erfarung nüwer Schiffung und Wege zu viln onerkanten Inseln und Königreichen... wie ich Balthasar Sprenger sollichs selbs in kurtz uerschynen zeiten: gesehen und erfaren hobe', gedruckt. Sie besteht aus fünfzehn Textseiten (ohne Paginierun), dreizehn Illustrationsseiten mit Holzschnitten sowie einem doppelseitigen Faltblattholzschnitt. Schulze spricht von nur vier bekannten Exemplaren: je einem in der Münchener und in der Wiener Hofbibliothek, in der Stadtbibliothek zu Frankfurt am Main (inzwischen Universitäts- und Stadtbibliothe) und der Kgl. Bibliothek zu Kopenhagen.In der bereits 1508 erschienenen 'kleinen' deutschen Ausgabe ist der Text vier von Hans Burgkmair angefertigten Holzschnitten zugeordnet: den vier großen Schauplätzen Gennea, Allago, Arabia und Großindia wurden jeweils Balthasar Sprengers entsprechende Beschreibungspassagen beigefügt. Burgkmair hatte insgesamt sechs Holzschnitte zur Indienreise angefertigt, jedoch nur vier davon mit Text versehen. Die Originale waren laut Schulze im Besitz der Familie Welser und wurden seinerzeit in deren Familienarchiv im Schloß Ramhof aufbewahrt. Photographische Reproduktionen existieren im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg und in Augsburg beim Historischen Verein für Schwaben. Zur Namensvariante Springer, auf der vor allem Franz Schulze besteht, noch ein Hinweis: er erwähnt eine Urkunde von 1486 des K. K. Statthalterei-Archivs zu Innsbruck, in welcher ein Hanns Springer genannt wird, der ebenfalls aus Vils stammte und ein 'Seelenhaus zu Heiligen Geist-Kirche' baute. Ein Vergleich der Familienwappen Balthasar Sprengers und Hanns Springers brachte Schulze zu der Annahme, daß jener sogar der Vater sein könnte. In diesem Zusammenhang steht seine Begründung für die Variante Springer und nicht Sprenger (F. Schulze, S. 5).

(5) Vgl. Ingrid Schiewe: Reiseliteratur. Vom Märchenglauben zur Welterkundung. In: Realismus in der Renaissance. Aneignung der Welt in der erzählenden Prosa. Berlin-Weimar 1977, S. 194ff.

(6) Bisher herrschte in der Sekundärliteratur die einhellige Meinung, daß der Druckort unbekannt sei, man vermutete allenthalben, es könnte Augsburg sein. Frau Dr. Irmgard Bezzel von der Redaktion des VD 16 an der Bayerischen Staatsbibliothek in München machte mich auf das bereits 1962 in Wiesbaden erschienene Buch von Josef Benzing: 'Jakob Köbel zu Oppenheim 1494 - 1533. Bibliographie seiner Drucke und Schriften', worin auch das Sprenger-Büchlein aufgeführt wird, aufmerksam. Bisherige Bemühungen, über das Stadtarchiv Oppenheim nähere Informationen über Jakob Köbel und eventuell auch über Balthasar Sprenger zu erhalten, haben noch zu keinen konkreten Ergebnissen geführt.

(7) Auf den problematischen Wahrheitsbegriff kann hier nichf näher eingegangen werden. Die literarische Geographie operiert mit den oppositionellen Begriffen wie fiktiv, phantastisch, authentisch, realistisch, um nur die prägnantesten hervorzuheben. Doch wie lassen sich diese Begriffe definieren? Der Literaturwissenschaftler findet oft die Reiseberichte erst dann interessant, wenn sie eindeutig fiktiv sind, der Historiker dagegen unterstellt jedem sich selbst als wahr bezeichnenden Bericht von vornherein Fiktionalität.

(8) Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Die umrundete Welt. In: Vom Reisen in der Kutschenzeit. (Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. Bd. 1 . Hrsg. von der Stiftung zur Förderung der Kultur und der Erwachsenenbildung in Ostholstein). Heide 1989.

(9) Michel Foucault: Andere Räume. In: Zeitmitschrift 1 , 1990, S. 5f.

(10) M. Foucault (Anm. 9), S. 15.

(11) Vgl. Franz Hümmerich: Quellen und Untersuchungen zur Fahrt der ersten Deutschen nach dem Portugiesischen Indien 1505/6. München 1918. In: Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Hist. Kl., Bd 30, 1918. - B. Greiff (Hrsg.): Tagebuch des Lucas Rem aus den Jahren 1494- 1541. Ein Beitrag zur Handelsgeschichte der Stadt Augsburg. 26. Jahresbericht des histor. Kreisvereins im Regierungsbezirk Schwaben Neuburg für das Jahr 1860. Augsburg 1961. - Konrad Haebler: Die überseeischen Unternehmungen der Welser und ihrer Gesellschafter. Leipzig 1903. - Friedrich Kunstmann: Die Fahrt der ersten Deutschen nach dem portugiesischen Indien. München 1861.

(12) Es handelt sich um den sog. Schweinsfisch, oder Meerschwein, auch Braunfisch genannt, eine Delphinart.

(13) Renate Kleinschmid: Balthasar Springers Merfart, eine ethnohistorische Primärquelle. In: Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz - Mitteilungen 14, 1968, S. 7- 17, bes S. 12.

(14) R. Kleinschmid (Anm.l3),S.12.

(15) R. Kleinschmid (Anm. 13), S. 14.

(16) Jakob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1 Leipzig 1854, Sp. 1521-1523.

(17) Zitiert nach J. u. W. Grimm (Anm. 16), Sp. 1522.
(18) Vgl. F. Hümmerich (Anm. 11), S. 61.

(19) Es handelt sich hierbei um die Ausgabe De Novo Mondo, Antwerp, Jan Doesborch (About 1520). A facsimile of an unique broadsheet containing an early account of the inhabitants of South America together with a short version of Heinrich (sic!) Sprenger's Voyage to the Indies. Edited, with transcription and translation of the Latin Text and introduction by Maria Elisabeth Kronenberg. Den Haag l927.
(20) Götz Pochat: Der Exotismus während des Mittelalters und der Renaissance. Voraussetzungen, Entwicklung und Wandel eines bildnerischen Vokabulars (Stockholm Studies in History of Art 21). Uppsala 1970, S. 160.
(21) Konrad Peutinger schrieb am 3.Januar 1505 einen Brief an den kaiserlichen Sekretär Blasius Hölzl: 'Meins Schwehers Brief wollet auch vertigen, dan die Schiff zu Portengal schier gen India faren werden vnd vns Augspurgern ains groß Lob ist, als für die Ersten Deutschen, die India suechen.' (B. Greiff [Anm. 11], S. 171.)


Last modified: Fri Mar 20 14:10:00 MET 1998