Stefan Zweig: Magellan
Mit der Literarizität der frühneuzeitlichen Reiseberichte tut man
sich in der
germanistischen Forschung immer noch recht schwer (1). Sie wurden primär als
kulturhistorisch interessante Quellen, als Zeitdokumente gesehen und
ausgewertet, selten aber als literarische Produkte. Vielleicht sind
die Gründe dafür in der vermeintlichen Kunstlosigkeit von Aufbau und
Form, die sehr oft den spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Texten
anhaftet, zu suchen. Die Beurteilungskriterien für die ästhetische
Qualität eines Textes dürfen sich aber nicht mehr an
vorausgegangenen Mustern orientieren, wie sie z.B. für das
mittelalterliche Epos galten, weil die althergebrachte Forderung des
'prodesse et delectare' ihren Schwerpunkt auf das 'prodesse', das
Nützliche, verlagerte. Der Zweck der Prosa war daher nicht mehr so
sehr ästhetischer Genuß, sondern vor allem
Wissensvermittlung. Umgekehrt kann behauptet werden, daß
Entdeckungsberichte nicht allein zur Sachinformation, sondern auch
zur Erbauung gelesen wurden (2).
Dieser Chiasmus offenbart die wechselseitige Abhängigkeit beider
Aspekte voneinander. Scheinbar fehlende ästhetische Kriterien
mußten Erbauung nicht unbedingt ausschließen, wie auch Erbauung
trotz ästhetischer Kriterien stattfinden konnte. Zum anderen liegt
in der Interdisziplinarität, die der Reisebericht geradezu
herausfordert, eine andere problematische Hürde für die
germanistische Literaturwissenschaft: 'Eine rein philologisch und
poetologisch orientierte Fragestellung kann zwar durchaus gewisse
Ergebnisse erzielen, kaum aber den Besonderheiten der Gattung
wirklich gerecht werden. Das ist nur möglich, wenn sie in den
Zusammenhängen gesehen wird, aus denen heraus sie entstanden ist -
in den Zusammenhängen literarischer, philosophischer und überhaupt
geistesgeschichtlicher, zudem sozialhistorischer, politischer,
naturwissenschaftlicher, ethnologischer, anthropologischer und
verwandter Entwicklungen im europäischen Kontext' (3). Der Reisebericht vereinigte in
sich all diese Tendenzen; eben darin liegt seine Besonderheit
gegenüber anderen Gattungen. Man kann in ihm ein Stück Sachprosa
oder Gebrauchsliteratur sehen, die auf die Erweiterung des
Wissenshorizonts erheblichen Einfluß hatte. Der Gebrauchsliteratur
in solchem Sinne ist auch Balthasar Sprengers Indienfahrt (4) zuzurechnen. Sprenger gehört in
die Reihe der frühen, merkantil motivierten Entdeckungsreisenden,
die neue Kenntnisse über den Orient verbreiteten und vielleicht auch
dazu beitragen wollten, den mittelalterlichen Wissensstand zu
revidieren und zu berichtigen. Sein Tatsachenbericht wurde somit vor
allem zum Träger von neuartigen Informationen. Die literarische Form
seiner Veröffentlichung steht in der Tradition alter Reiseberichte
und erinnert in ihrer Gottesfrömmigkeit insbesondere an
Pilgerberichte vergangener Zeiten; sie muß deswegen jedoch nicht
gleich dieser Gattung zugeordnet werden.
'Die Merfart unn erfarung nüwer Schiffung und Wege zu viln
onerkanten Inseln und Künigreichen/ von dem großmechtigen
Portugalischen Kunig Emanuel Erforscht/ funden/ bestritten unnd
Ingenomen / Auch wunderbarliche Streyt/ ordenung/ leben wesen handlung
und wunderwercke / des volcks und Thyrer darin wonende/ findestu in
diessem buchlyn wahrhaftiglich beschryben und abkunterfeyt/ wie ich
Balthasar Sprenger sollichs selbs: in kurtzverschynen zeiten: gesehen
und erfaren habe.'
So lautet der Anfang seines Reiseberichts.
Denkt man daran, wohin ihn die Reise führte - nach Indien, wäre es
nicht verwunderlich, von seltsamen Gestalten und anderen
Kuriositäten zu hören. Indien und das Paradies sind zwei
Vorstellungen, die in der mittelalterlichen Literatur nicht
voneinander loskommen. Wie Magneten hingen sie aneinander,
beeinflußten das Denken und hinterließen ihre Spuren in der
Dichtung. Die Ausrichtung des mittelalterlichen Weltbildes auf den
heiligen Osten, wo am Anfang der Zeit das Paradies seinen Ort hatte,
ließ den Blick über das bitter umkämpfte und dann verlorene Heilige
Land hinweg in ungetrübte Fernen schweifen. Indien wurde zum
Sammelbecken alter und neuer Erwartungen. Es schien so wunderbar, so
voller Fabelwesen, voller Reichtümer, so anders als alles bisher
Gekannte zu sein, daß es sich geradezu aufdrängte, entdeckt und in
Besitz genommen zu werden. Die antiken Indienvorstellungen, wie sie
Herodot, Plinius und andere der Nachwelt überlieferten, der
mittelalterliche Alexandermythos und die Suche nach dem
sagenumwobenen Priesterkönig Johannes, auch das Herzog-Ernst-Epos
mit seinen märchenhaften Schilderungen, hatten das Orientbild in der
Literatur und in den Köpfen der Menschen geprägt. Erst das Zeitalter
der Entdeckungen sollte neue Bilder als Dokumente des Gesehenen
gegen die alten eintauschen. Der daraus resultierende Umbruch hatte
eine kritische Überprüfung der bisher als sicher geltenden
Kenntnisse zur Folge. Doch nicht sofort konnte der real existierende
Weltball, der nun das Blickfeld der Phantasie füllte, die
Wundersucht des Mittelalters kurieren. Die langgeübte
Textgläubigkeit ließ nicht zu, daß antike Autoritäten mit einem
Schlag diskreditiert und verdrängt wurden (5). In den nach 1500 erschienenen Kosmographien,
z.B. Sebastian Münsters Indienschilderung, wurden die antiken
Vorlagen und Quellen mitnichten korrigiert, sondern
weitergesponnen. Um so überraschender nimmt sich Balthasar Sprengers
Bericht vor dem Hintergrund dieser hartnäckigen Tradition aus.
Am 23. März des Jahres 1505 ging Balthasar
Sprenger als Vertreter der Welser und im Auftrag des Portugiesischen
Königs Emanuel in Rostal, unweit Lissabons an Bord der Leonhard. Gut
anderthalb Jahre später, am 15. November 1506, erreichte er wieder
Lissabon. Von dort ist er vermutlich nach Deutschland zurückgekehrt,
wo 1509 seine 'Merfart' - wahrscheinlich in bewußter Anlehnung an
populäre Reiseberichte wie die von Mandeville und Marco Polo - bei
Jakob Köbel in Oppenheim gedruckt wurde (6). Fabulöse Orientvorstellungen fehlten in diesem
Reisebericht; aber er war auch nicht allein von utilitären,
handelspolitisch-kaufmännischen Gesichtspunkten geleitet. Zunächst
und vor allem war es eine getreue Augenzeugenschilderung der
gesehenen Länder und Völker. Die Erfahrung der Reise selbst, als
Bewegung in Zeit und Raum, war zum Gegenstand des Erzählens
geworden, wie auch die Erschließung der realen Räume sich zum
subjektiven Erlebnis formte und gerade deswegen mitteilenswert
erschien. Die wahrhaftige - hier liegt die Betonung - Beschreibung
des Erlebten und Gesehenen, wie Sprenger sie vorführte, wurde
gleichsam zum Sinn und Zweck seiner Reise (7). Es ist bekannt, daß die Reise im allgemeinen nicht
nur ein literarisches Motiv, sondern von weltgeschichtlicher
Bedeutung, als die Erfahrung von Welt und gleichzeitig ihre
Eroberung und Veränderung war (8). Die Entdeckungs- und später die Handelsfahrten lassen
ahnen, mit welch erstauntem Blick die neuen Räume aufgenommen und
durchmessen wurden.
Abb.1 Genna: ganzseitige Holzschnitt-Illustration aus
Balthasar Sprengers Indienfahrt, der sog. grossen Indienfahrt von
1509
'Der Raum selbst', um mit Foucault
zu sprechen,
'hat in der abendländischen Erfahrung eine Geschichte, und es ist
unmöglich, diese schicksalhafte Kreuzung der Zeit mit dem Raum zu
verkennen. Um diese Geschichte des Raumes grob nachzuzeichnen,
könnte man sagen, daß er im Mittelalter ein hierarchisiertes
Ensemble von Orten war: heilige Orte und profane Orte; geschützte
Orte und offene, wehrlose Orte; städtische und ländliche Orte: für
das wirkliche Leben der Menschen. Für die kosmologische Theorie gab
es die überhimmlischen Orte, die dem himmlischen Ort entgegengesetzt
waren; und der himmlische Ort setzte sich seinerseits dem irdischen
Ort entgegen. Es gab die Orte, wo sich die Dinge befanden, weil sie
anderswo gewaltsam entfernt worden waren, und die Orte, wo die Dinge
ihre natürliche Lagerung und Ruhe fanden. Es war diese Hierarchie,
diese Entgegensetzung, diese Durchkreuzung von Ortschaften, die
konstituierten, was man grob den mittelalterlichen Raum nennen
könnte: Ortungsraum' (9). Dieser
Ortungsraum hat sich mit Beginn der großen Enfdeckungsfahrten
geöffnet: Unbekannte Kontinente und neue Wege in bekannte Länder
wurden gefunden. An die Stelle der Ortung trat die Ausdehnung. Nicht
mehr der Kreuzzug, sondern der Fernhandel bot dafür die nötigen
Voraussetzungen. Das Schiff avancierte zum Kommunikationsmittel par
exellence. Foucault nennt es 'ein schaukelndes Stück Raum..., ein
Ort ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen ist
und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert... und der
von Hafen zu Hafen, von Ladung zu Ladung,... bis zu den Kolonien
suchen fährt, was sie an Kostbarstem in ihren Gärten bergen' (10). Das Schiff war also nicht nur
das größte Instrument der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch
das größte Imaginationsarsenal. Dieser in sich abgeschlossene Raum,
dieser Mikrokosmos, wurde nun zum Sammelpunkt der Erlebnisse. Vom
Schiff aus hat auch Sprenger beobachtet, erlebt, gelitten und seine
Erfahrungen reflektiert.
Sprengers Bericht dreht sich nicht so sehr
um Vorgegebenes oder Erwartetes, sondern um das tatsächlich
Existierende. Er beschrieb ganz offenkundig persönliche Erlebnisse
und historische Ereignisse (11). Der Verlauf in Stichworten: Die Reise begann in
Antorff (Antwerpen). Zwischenstation war Rostal, eine Meile von
Lissabon entfernt; von dort stach man in See nach Indien. Gleich zu
Anfang der Reise hatte Sprenger seine erste Begegnung mit der für
ihn unbekannten subtropischen Meeresfauna: 'ein wunderbarlich
grausamlicher fisch' tauchte beim Auslaufen in der Hafenmündung
auf; und wenige Tage später ein zweiter schweinsförmiger Fisch, der
schließlich als willkommene Ergänzung des Speisezettels endete:
'... uff den andern tag der do was des XXVii. der Mertzen Schossen
die Schiffleut ein/ onbekanten seltzamen Fisch in der Cost im
Spangen Sehe/ den sie ein Dürschin nanten der was folligklich eins
mans langk gleicher gestalt einem Schwein das ongeverlich fyer
guldin bei uns werdt/ und het der fisch: als eyn Eber am hyndern
teil seins leibs: ein groß geschröd/ und vorn an seynem mund ein
Schnabel geleich eim Fogel doch einer breitern form: und in seinez
maul vil kleiner scharpffer zene/ Mit diessem fisch wurden gespeißt
inn einem tag Hundert und sechsundtzwentzig menschen do von ich
selber gessen und gespeißt worden bin' (12). Für Sprenger war es ein
völlig neuer Eindruck, ein erster Vorgeschmack jener Fremde, die ihn
erwartete. Die Flotte segelte weiter, an den Kanarischen Inseln
vorbei, bis sie am 7. April 1505 die Stadt 'Byssegiela' (Bezequiche,
bei der Insel Gorée am Kap Verde) im 'Morenland' erreichte. Sprenger
beschrieb detailliert seine Eindrücke: Menschen, ihre Häuser, ihre
Kleidung und Lebensart. Es sind nüchterne Beobachtungen, die der
Realität entsprachen, frei von phantastischen Ausschmückungen:
'Wir sahen auch in diessez Kunigreich und Inseln wunderbar
onschamhafft menschen beyderlei geschlecht undereinander als die
wilden Thyr: etlich allein die Scham bedecken/ die andern nackend/
all schwartz als die wir bei uns Moren nennen umblauffen: der Moren
land sich auch da anheben: Ire wonungen und hüser gleichen sich den
hütten als die armen dorfleut in unsern landen über die backöffen
machen: welch hüser die inwoner noch irem willen tragen wo hyn sie
zu wonen lust haben In diessen Inseln und landen ist
uberflüssigklich vil fychs/ klein und feißt von leibe'. Er
sieht einen ungewöhnlichen Baum, es ist der Affenbrotbaum, und
vergleicht seine Früchte mit Kürbissen. Die weitere Fahrt zum Kap
der Guten Hoffnung fand er eintönig. Sie sahen 'weder fisch
noch keinerlei creaturen, nur wiltniß und eynöde', in der sie
Kälte und Regen erwartete. Sprenger verglich diese
Wetterverhältnisse mif dem deutschen Winter. Am 19. Juli erreichten
die acht Schiffe Kilwa (an der Küste Kenias). Die Stadt wurde
eingenommen und geplündert, weil sich ihr König weigerte, den
Fremden Tribut zu zollen. Im August ging die Fahrt weiter nach
Mombasa, auch dort fanden Kämpfe statt. Mit Beute beladen segelten
die Eroberer über Melinde nach Indien. In Ammor (Onor) und Gotschin
wurde mit Erfolg gekämpft und Handel getrieben; das Ergebnis: vier
mit Pfeffer beladene Schiffe. Am Weihnachtsabend 1505 kam das
Geschwader in Cananor (in der Nähe von Calicut) an, wo nochmals
Gewürze und Pfeffer geladen wurden. Im Januar trat man die Rückreise
an; sie führte über Mosambik wieder zum Kap der Guten Hoffnung, an
Acencion und St. Helena vorbei nach Lissabon, wo Sprenger am
15. November wieder europäischen Boden erreichte.
Sprengers Bericht schließt mit
einigen ethnographischen
Bemerkungen über Afrika und Indien, die etwas Neues ankündigten und
von einer realistischeren Sicht zeugten. Seine relativ umfangreichen
Nachrichten über die Kapverdischen Inseln sind die ersten ihrer Art
überhaupt und damit 'quellenmäßig von Bedeutung' (13). Interessant für Sprengers Beobachtungs- und
Beschreibungsform ist die Tatsache, daß er selbst
höchstwahrscheinlich das Festland gar nicht betreten
hatte. Lediglich aus der Schiffsperspektive wurde das fremde Land
gesehen: 'Alles, was er vom Schiff aus beobachten konnte, beschreibt
er richtig und bilderreich' (14). Aus ethnohistorischer Sicht sind die Aussagen
Sprengers über die afrikanischen Küsten nur von 'mittelmäßiger
Bedeutung. Für den südafrikanischen Raum aber stellen Springers
Nachrichten Primärquellen von außerordentlichem Rang dar. Sprenger
gibt als erster einen umfassenden Bericht über die Kultur einzelner
Gruppen der Kaphottentotten. Er beschreibt Kleidung, Schmuck,
Waffen, Haartracht, Sprache, Obdach u.v.a. mit bewunderungswürdiger
Genauigkeit. Seine Aussagen sind, werden sie durch zeitlich vor und
zeitlich nach 1506 liegende Quellen überprüft, als absolut
wahrheitsgetreu zu bezeichnen und werden durch die Holzschnitte Hans
Burgkmairs in beachtlicher Weise gestützt und vervollkommnet' (15).
Sprenger bediente sich einer Präsentationsform, die seinerzeit neu und
erst im Entstehen war: Sein Reisebericht verzichtete auf Fiktionen und
Phantastereien, blieb also soweit es überprüfbar ist,
wahrheitsgetreu. Wo er irreführende Aussagen macht, sind diese
lediglich ein Zeichen von Unkenntnis, die er auch offen zugibt:
'inn dyesser gegene lygen vil ander Kunigreich der namen mir
onkundig'. Wie wir wissen, waren nicht alle Berichte aus
exotischen Ländern in ihrem Verhältnis zur Wahrheit ungebrochen. Da
viele dieser Beschreibungen nicht allein zur Sachinformation, sondern
auch zur Erbauung geschrieben wurden, war die Versuchung, sie mit
schönen, unglaublichen Geschichten auszuschmücken, sicherlich
groß. Sprengers Text hingegen ist durch die Chronologie seiner
persönlichen Erfahrung und Beobachtung strukturiert. Er vermittelte
wohl schon seinen Zeitgenossen den Eindruck einer Berichtigung
etablierten Wissens; konkret, einer Richtigstellung fabulöser
Vorstellungen.
Die Begriffe Bericht und Berichtigung, die
Sprenger selbst nicht benutzte, scheinen mir für die Kennzeichnung
seiner Schreibweise gut geeignet; sie sind auch etymologisch
miteinander verschränkt (16). Im
Mittelhochdeutschen bedeutet 'berihten' eigentlich richtig
machen. Gibt jemand Bericht über etwas, so kann dies gleichzeitig
eben auch heißen: er stellt etwas richtig, berichtigt vorhergehende
Informationen. Im Frühneuhochdeutschen wurde 'berichten' auch im
Sinne von berichtigen gebraucht: 'da würde man keiner rechtbücher
noch gericht, noch klage dürfen, ja alle sachen würden schnell
bericht und schlecht' (Martin Luther) (17). Erst im 18. Jahrhundert bildet sich in der deutschen
Sprache das Verb berichtigen, nach dem französischen rectifier,
corriger. Gerade in Balthasar Sprengers Reisebericht findet die
etymologische Verknüpfung der Worte Bericht und Berichtigung ihre
Bestätigung, denn der Text sollte nicht von erfundenen Dingen Kunde
geben, sondern beschreiben, was tatsächlich gesehen wurde:
'findestu in diessem buchlyn wahrhaftiglich beschryben und
abkunterfeyt/ wie ich Balthasar Sprenger sollichs selbs: in
kurtzverschynen zeiten: gesehen und erfaren habe.' So ist die
'Merfart' nicht nur auf einen geographischen oder ethnologischen
Inhalt reduziert und vom phantastischen Beiwerk befreit, sondern
besitzt durch ihre autobiographische Erzählposition auch einen neuen
und anderen Charakter von geographischer Erfahrung. Es stellt sich
hier die Frage, ob Sprenger wirklich das gelehrte Wissen, das
Toposwissen, fehlte oder ob er es ganz einfach ignorierte, weil
einzig und allein seine Beobachtung ihn auf etwas Neues, vorher so
noch nicht Gesehenes aufmerksam machte?
Seine Indienfahrt erschien in zwei
Varianten,
einmal in der literarisierten Form, als die 'große Indienfahrt' 1509
mit Illustrationen (Abb. 1 ) und bereits 1508 (Abb. 2 und 3), als
eine Serie von Holzschnitten, die von Hans Burgkmair in Augsburg
angefertigt und mit Sprengers Text versehen wurden. Gerade diese
Publikationsform bestärkt und unterstreicht die These der
Berichtigung etablierten Wissens. Sie will nicht nur mit Worten
beschreiben, sondern diese selbst bildnerisch verstärken, die
Situation des Betrachters nochmal vor Augen führen und auf diese
Weise das Gesehene dokumentieren. Die Illustrationen gingen sogar
über das Beschriebene hinaus und bezogen sich wahrscheinlich auf
mündliche und briefliche Aussagen Sprengers (18). Natürlich wirkten sie nicht
minder exotisch und fremd, waren jedoch frei von jedwelchen Monstern
der Antike und des Mittelalters. In ihrer Exaktheit erhoben sie
zudem den Anspruch auf Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit. Als
irreführend und die Glaubwürdigkeit der Sprengerschen Aussagen
bezweifelnd, hat sich vor allem eine Illustration der flämischen
Ausgabe von 1520 (Abb. 4) erwiesen (19). Die darauf dargestellten Menschen sind aufgrund
ihres Kopfschmucks als Indianer zu identifizieren und somit dem
neuentdeckten 'Westindien' zuzurechnen. Diese Illustration ist
keiner der Sprengerschen Ausgaben entnommen, hat also mit seiner
'Merfahrt' nichts zu tun. Sprengers, bzw. Burgkmairs Bilderbericht
hält sich an die Realitäten, zeigt Szenen aus den tatsächlich
besuchten Gegenden und kann aus diesen Gründen auch als 'Grundlage
einer neuen Bildersprache verstanden werden', die erst am Anfang
ihrer Entwicklung stand (20). Der ikonographische Aspekt läßt sich von dem
literarischen nur schwer trennen, beide bezeugen den neuen Sinn
solcher Reiseberichte.
Dieser Beitrag ist ein Versuch, Sprengers
Bericht von der literaturwissenschaftlichen Seite zu betrachten und
vorzustellen. Er soll deswegen nicht gleich zum Kunstwerk, im Sinne
Lessingschen Stilgesetzes, zu kompositorischer Vollkommenheit
erhoben werden, sondern das Zeugnis einer Prosa sein, die wahrhaftig
erzählen kann. Die Erzählung erhebt in diesem Fa1l für sich den
Anspruch, die Wahrheit nicht ausschließen zu wollen oder zu müssen.
Sprengers Bericht - es ist eigentlich der Bericht eines Kaufmanns -
dreht sich nicht um den Handel, sondern um die Erlebnisse während
einer ungewöhnlichen Reise ins ferne Indien. Aus seiner Beschreibung
ist wohl zu ersehen, daß es ihm nicht einfach um die Dokumentation
für handelspolitische Zwecke ging, denn über die merkantilen Aspekte
jener Reise erfahren wir von Sprenger recht wenig; viel
aufschlußreicher sind da die Berichte von Lukas Rem und Hans
Mayer. Es scheint, als habe Sprenger etwas ganz anderes
beabsichtigt. Er wollte an dem Ruhm teilhaben, einer der ersten und
wenigen Deutschen gewesen zu sein, die 'India suchten' (21)
.
Abb.2 In Gennea: Eingeborene von Guinea. Hans
Burgkmair, Holzschnitt zu Balthasar Sprenger: Indienfahrt
1508.
Linke Haelfte eines zweiszenigen Bildstreifens
Abb.3 Der Kunig von Gutzin.
Holzschnitt von Hans
Burgkmair zu Balthasar Sprengers Indienfahrt, 1508. Rechte
Haelfte
Abb.4 Kannibalenfamilie mit Indianerkopfschmuck;
Holzschnitt aus: De Novo Mondo, Antwerpen, Jan van Doesborch, um 1520
Fußnoten
(1) Diese Problematik
verdeutlicht besonders gut Peter J. Brenner in der Einleitung des von
ihm herausgegebenen Sammelbandes: Der Reisebericht. Frankfurt
a. M. 1989, S. 7, wo auch er feststellt, daß 'die germanistische
Literaturwissenschaft... bis in die Gegenwart den Anspruch des
Reiseberichts kontrovers diskutiert, in das Gefüge des Gattungskanons
aufgenommen werden zu dürfen.' Freilich gilt das nicht für das
18. Jahrhundert, 'dessen Reiseliteratur inzwischen sehr gut
erschlossen ist. Dies allerdings um den Preis der Vernachlässigung
großer Teile der anderen Tradition der Gattung...'(S. 7f.). Das hier
behandelte Thema ist Teil meiner literaturwissenschaftlichen
Dissertation über Balthasar Sprenger und den frühneuzeitlichen
Reisebericht.
(2) Vgl. Wolfgang Neuber: Zur
Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen
Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik. In:
P. J. Brenner (Anm. 1), S. 51 .
(3) P.J. Brenner (Anm. 1), S. 8.
(4) Der Text dieser exotisch
abenteuerlichen Indienfahrt ist in mehreren Ausgaben/Varianten
überliefert: Zwei Exemplare liegen in lateinischer Sprache vor, eines
davon ist handgeschrieben. Von der handschriftlichen lateinischen
Version ist laut Schulze (Franz Schulze: Balthasar Springers
Indienfahrt 1505/06. Wissenschaftliche Würdigung der Reiseberichte
Springers zur Einführung in den Neudruck seiner 'Meerfahrt' vom Jahre
1509, Straßburg 1902) nur das Exemplar in der Gießener
Universitätsbibliothek erhalten, allerdings ohne Namen des Verfassers,
ohne Orts- und Jahresangabe. Die Druckversion des lateinischen
Berichts ist in Paris 1724 im zweiten Band der 'Voyage littéraire de
deux religieux Bénédictines de la congrégation de S. Maur' unter dem
Titel: 'Iter indicum' erschienen. Außerdem ist noch eine flämische
Ausgabe bekannt, die jedoch nicht sofort als eine auf der lateinischen
Version Sprengers basierende Fälschung erkennbar ist. Angeblich soll
Vespuccius ihr Verfasser gewesen sein.Die 'große' deutsche Ausgabe
wurde 1509 unter dem Titel: 'Die Merfart unn erfarung nüwer Schiffung
und Wege zu viln onerkanten Inseln und Königreichen... wie ich
Balthasar Sprenger sollichs selbs in kurtz uerschynen zeiten: gesehen
und erfaren hobe', gedruckt. Sie besteht aus fünfzehn Textseiten (ohne
Paginierun), dreizehn Illustrationsseiten mit Holzschnitten sowie
einem doppelseitigen Faltblattholzschnitt. Schulze spricht von nur
vier bekannten Exemplaren: je einem in der Münchener und in der Wiener
Hofbibliothek, in der Stadtbibliothek zu Frankfurt am Main (inzwischen
Universitäts- und Stadtbibliothe) und der Kgl. Bibliothek zu
Kopenhagen.In der bereits 1508 erschienenen 'kleinen' deutschen
Ausgabe ist der Text vier von Hans Burgkmair angefertigten
Holzschnitten zugeordnet: den vier großen Schauplätzen Gennea, Allago,
Arabia und Großindia wurden jeweils Balthasar Sprengers entsprechende
Beschreibungspassagen beigefügt. Burgkmair hatte insgesamt sechs
Holzschnitte zur Indienreise angefertigt, jedoch nur vier davon mit
Text versehen. Die Originale waren laut Schulze im Besitz der Familie
Welser und wurden seinerzeit in deren Familienarchiv im Schloß Ramhof
aufbewahrt. Photographische Reproduktionen existieren im Germanischen
Nationalmuseum Nürnberg und in Augsburg beim Historischen Verein für
Schwaben. Zur Namensvariante Springer, auf der vor allem Franz Schulze
besteht, noch ein Hinweis: er erwähnt eine Urkunde von 1486 des
K. K. Statthalterei-Archivs zu Innsbruck, in welcher ein Hanns
Springer genannt wird, der ebenfalls aus Vils stammte und ein
'Seelenhaus zu Heiligen Geist-Kirche' baute. Ein Vergleich der
Familienwappen Balthasar Sprengers und Hanns Springers brachte Schulze
zu der Annahme, daß jener sogar der Vater sein könnte. In diesem
Zusammenhang steht seine Begründung für die Variante Springer und
nicht Sprenger (F. Schulze, S. 5).
(5) Vgl. Ingrid Schiewe:
Reiseliteratur. Vom Märchenglauben zur Welterkundung. In: Realismus in
der Renaissance. Aneignung der Welt in der erzählenden
Prosa. Berlin-Weimar 1977, S. 194ff.
(6) Bisher herrschte in der
Sekundärliteratur die einhellige Meinung, daß der Druckort unbekannt
sei, man vermutete allenthalben, es könnte Augsburg sein. Frau
Dr. Irmgard Bezzel von der Redaktion des VD 16 an der Bayerischen
Staatsbibliothek in München machte mich auf das bereits 1962 in
Wiesbaden erschienene Buch von Josef Benzing: 'Jakob Köbel zu
Oppenheim 1494 - 1533. Bibliographie seiner Drucke und Schriften',
worin auch das Sprenger-Büchlein aufgeführt wird,
aufmerksam. Bisherige Bemühungen, über das Stadtarchiv Oppenheim
nähere Informationen über Jakob Köbel und eventuell auch über
Balthasar Sprenger zu erhalten, haben noch zu keinen konkreten
Ergebnissen geführt.
(7) Auf den problematischen
Wahrheitsbegriff kann hier nichf näher eingegangen werden. Die
literarische Geographie operiert mit den oppositionellen Begriffen wie
fiktiv, phantastisch, authentisch, realistisch, um nur die
prägnantesten hervorzuheben. Doch wie lassen sich diese Begriffe
definieren? Der Literaturwissenschaftler findet oft die Reiseberichte
erst dann interessant, wenn sie eindeutig fiktiv sind, der Historiker
dagegen unterstellt jedem sich selbst als wahr bezeichnenden Bericht
von vornherein Fiktionalität.
(8) Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Die
umrundete Welt. In: Vom Reisen in der
Kutschenzeit. (Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. Bd. 1
. Hrsg. von der Stiftung zur Förderung der Kultur und der
Erwachsenenbildung in Ostholstein). Heide 1989.
(9) Michel Foucault: Andere Räume. In:
Zeitmitschrift 1 , 1990, S. 5f.
(10) M. Foucault (Anm. 9), S. 15.
(11) Vgl. Franz Hümmerich: Quellen und
Untersuchungen zur Fahrt der ersten Deutschen nach dem Portugiesischen
Indien 1505/6. München
1918. In: Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Hist. Kl.,
Bd 30, 1918. - B. Greiff (Hrsg.): Tagebuch des Lucas Rem aus den Jahren 1494-
1541. Ein Beitrag zur Handelsgeschichte der Stadt Augsburg. 26. Jahresbericht
des histor. Kreisvereins im Regierungsbezirk Schwaben Neuburg für das
Jahr 1860. Augsburg 1961. - Konrad Haebler: Die überseeischen
Unternehmungen der Welser und ihrer Gesellschafter. Leipzig 1903. -
Friedrich Kunstmann: Die Fahrt der ersten Deutschen nach dem
portugiesischen Indien. München 1861.
(12) Es handelt sich um den
sog. Schweinsfisch, oder Meerschwein, auch Braunfisch genannt, eine
Delphinart.
(13) Renate Kleinschmid: Balthasar
Springers Merfart, eine ethnohistorische Primärquelle. In: Akademische
Druck- und Verlagsanstalt, Graz - Mitteilungen 14, 1968, S. 7- 17, bes
S. 12.
(14) R. Kleinschmid (Anm.l3),S.12.
(15) R. Kleinschmid (Anm. 13), S. 14.
(16) Jakob und Wilhelm
Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1 Leipzig 1854, Sp. 1521-1523.
(17) Zitiert nach J. u. W. Grimm
(Anm. 16), Sp. 1522.
(18) Vgl. F. Hümmerich (Anm. 11), S. 61.
(19) Es handelt sich hierbei um die
Ausgabe De Novo Mondo, Antwerp, Jan Doesborch (About 1520). A
facsimile of an unique broadsheet containing an early account of the
inhabitants of South America together with a short version of Heinrich
(sic!) Sprenger's Voyage to the Indies. Edited, with transcription and
translation of the Latin Text and introduction by Maria Elisabeth
Kronenberg. Den Haag l927.
(20) Götz Pochat: Der Exotismus während
des Mittelalters und der Renaissance. Voraussetzungen, Entwicklung und
Wandel eines bildnerischen Vokabulars (Stockholm Studies in History of
Art 21). Uppsala 1970, S. 160.
(21) Konrad Peutinger schrieb am 3.Januar
1505 einen Brief an den kaiserlichen Sekretär Blasius Hölzl: 'Meins
Schwehers Brief wollet auch vertigen, dan die Schiff zu Portengal
schier gen India faren werden vnd vns Augspurgern ains groß Lob ist,
als für die Ersten Deutschen, die India suechen.' (B. Greiff
[Anm. 11], S. 171.)
Last modified: Fri Mar 20 14:10:00 MET 1998