Das geographische Weltbild des Eratosthenes

Heinz-Dietmar Richter

in: Bott, G.; Willers, J. (Hrsgb.): Focus Behaim-Globus. Ausstellungskatalog, 2 Bde., Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Nürnberg, Dezember 1992.

Über Leben und Werk des Eratosthenes aus Kyrene, eines der berühmtesten Geographen und Wissenschaftlers der gesamten Antike, ist die Nachwelt ausschließlich über sekundäre Quellen aus späterer Zeit unterrichtet. Während alle einst recht umfangreichen Schriften des Eratosthenes im Originalwortlaut verlorengegangen sind, bieten einzig die bei verschiedenen Schriftstellern überlieferten Fragmente aus den Werken des alexandrinischen Gelehrten einen Einblick in dessen Gedankenwelt und Forschungsmethoden. So stehen der modernen historischen und geographischen Forschung über Eratosthenes in erster Linie nachstehende Werke zur Verfügung:

1. Die "Geographika" Strabons, eines bedeutenden Geographen und Historikers, in siebzehn Büchern, die etwa um die Zeitenwende entstanden sind und die heute als eine der wichtigsten Informationsquellen über den Gesamtbereich der Geographie in der griechischen Welt anzusehen sind (die im folgenden Text zitierten Strabon-Stellen mit dem vorangestellten C beziehen sich auf die Zählung der Erstedition durch Casaubonus, Kat.-Nr. 3.24).

2. Plinius widmet Eratosthenes einige Bemerkungen in seiner "Naturalis historia" (Kat.-Nr. 3.25), deren Entstehung in das erste nachchristliche Jahrhundert zu datieren ist.

3. Kleomedes, der ein Werk mit dem Titel "De motu circulari corporum caelestium" (Über die Umlaufbewegung von Himmelskörpern) verfaßte, unterrichtet sehr detailliert über die Methodik des Eratosthenes.

4. Die Suda, ein Lexikon aus byzantinischer Zeit, enthält einige biographische Daten über Eratosthenes und sein Wirken.

5. Daneben enthalten Werke Arrians (eine Beschreibung Indiens mit dem Titel "Indike"), des Censorinus ("De die natali liber" - Über den Geburtstag) sowie Galens aus dem zweiten Jahrhundert n.Chr. ("Institutio logica") ebenso wertvolle Nachrichten wie ein Papyrus aus der ägyptischen Stadt Oxyrhynchus (P. Oxy. X, 1241), der Auskunft erteilt über die an der Bibliothek in Alexandria beschäftigten Bibliothekare, zu denen auch Eratosthenes zählte.

Weitere erhaltene singuläre Quellennachrichten bedürfen hier keiner weiteren Erwähnung.

Als Sohn eines gewissen Aglaos aus der nordafrikanischen Stadt Kyrene stammend (das exakte Geburtsdatum ist nicht bekannt, dürfte aber in die 80er Jahre des 3. Jahrhunderts v.Chr. zu setzen sein, während sein Tod um 195 v.Chr. datiert), war er ein Schüler des 261/60 v.Chr. verstorbenen Philosophen Zenon und kannte offensichtlich auch noch den letzten großen Lokalhistoriker Athens, Philochoros, persönlich. Diese persönlichen Beziehungen gehen auf einen Studienaufenthalt in Athen in den 60er Jahren zurück.

Die eigentliche wissenschaftliche Laufbahn des Eratosthenes nahm ihren Anfang, als er von Ptolemäus III. Euergetes, dem König Ägyptens, im Jahre 246 v.Chr. zur Führung der Bibliothek und zur Erziehung seines Sohnes und Thronfolgers Ptolemäus' IV. nach Alexandria berufen wurde. Mit der Übernahme der Bibliotheksleitung war er somit zugleich Nachfolger des berühmten Kallimachos und fand in der Hauptstadt des ptolemäischen Ägyptens den Boden vor, der ihm die Grundlagen für seine vielfältigen Forschungen und wissenschaftlichen Leistungen in den unterschiedlichsten Disziplinen bieten konnte.

So hat er unter anderem philosophische Schriften und auch Gedichte verfaßt, hat über Themen der Mathematik (hier sei nur stellvertretend sein Verfahren zur Bestimmung von Primzahlen erwähnt) und der Astronomie gehandelt und literaturwissenschaftliche und grammatikalische Komplexe bearbeitet.

Von Zeitgenossen wurde Eratosthenes - je nach der Wertschätzung seiner Person - mit zwei Spitznamen belegt: Nannten ihn die einen ehrfürchtig "Pentathlos" und bezogen sich damit auf die Variationsbreite seiner Forschungen, so wurde er von anderen abfällig als "Beta" bezeichnet, womit zum Ausdruck gebracht werden sollte, daß er auf allen Gebieten immer nur der "Zweite", nie aber der Beste sei.

Die beiden Werke, die als die bedeutendsten zu bezeichnen sind und die das geographische Weltbild des Eratosthenes illustrieren, sind zum einen die Schrift "Geographika", die erstmals in der Geschichte diesen Titel führt, und zum anderen die Darstellung über die "Erdmessung".

Die Erdmessung

Die sicherlich eindrucksvollste und auch wirkungsträchtigste Leistung der wissenschaftlichen Erkenntnisse des Eratosthenes ist zweifelsfrei in der als revolutionär zu bezeichnenden Erdmessung zu sehen. Hatte es bereits vorher Schätzungen zum Erdumfang gegeben - es findet sich beispielsweise bei Aristoteles (in der Schrift "De caelo") die Zahl von 400.000 Stadien - so sollte die exakte mathematische Methodik, die nunmehr zur Anwendung kam, die geographischen Kenntnisse auf ein gesichertes Fundament stellen.

Die detaillierte Schilderung der Vorgehensweise ist einem Text des Kleomedes (1, 10, 1-4), dessen Lebenszeit irgendwann zwischen dem ersten und fünften nachchristlichen Jahrhundert lag, zu entnehmen und sei ausführlich zitiert, um den Forschungen des Eratosthenes den gebührenden Stellenwert einräumen zu können. Die jeweils in Klammern angegebenen Buchstabenverbindungen beziehen sich auf die bildliche Darstellung der Methodik in Abbildung 1: "Gehen wir zunächst davon aus, daß Syene und Alexandria auf demselben Meridian liegen; weiterhin, daß die Entfernung zwischen beiden Städten 5.000 Stadien beträgt und daß die Strahlen von verschiedenen Teilen der Sonne, die wiederum auf verschiedene Teile der Erde fallen, parallel sind - was zumindest die Mathematiker behaupten. Gehen wir viertens von der Annahme aus - und dies haben die Mathematiker bewiesen -, daß Strahlen, die auf parallele Linien fallen, die gleichen Winkel bilden. Fünftens, daß die Kreisbögen, die auf gleichen Winkeln beruhen, ähnlich sind, d.h. daß sie im Hinblick auf den jeweiligen Kreis die gleiche Proportion und das gleiche Verhältnis besitzen. Denn wenn Kreisbögen auf gleichen Winkeln beruhen, wenn beispielsweise einer ein Zehntel eines Kreises darstellt, dann stellen alle ein Zehntel des Kreises dar.

Nach Eratosthenes liegen Syene und Alexandria auf demselben Meridian. Folglich müssen notwendigerweise, da die Meridiane einen Teil der großen auf der Erde existierenden Kreise bilden, die Kreise unter diesen Meridianen gleichzeitig der Umfang der Erde sein. Er sagt - und das ist eine nachgewiesene Tatsache - daß Syene auf dem nördlichen Wendekreis [T - E] liegt. Wenn also die Sonne im Krebs steht und die Tage der Sommersonnenwende anzeigt und sie genau auf den Meridian trifft, dann werfen die Zeiger der Sonnenuhr keinen Schatten mehr, was bedeutet, daß die Sonne sich exakt in der Vertikalen über dem Zeiger befindet [Z - S]. Man berichtet, dies verhalte sich in einem Umkreis von 300 Stadien so. Zur gleichen Zeit aber werfen die Zeiger der Sonnenuhr in Alexandria Schatten, weil die Stadt nördlicher als Syene liegt. Wenn die beiden Städte auf demselben Meridian und somit auf demselben Kreis liegen und wir nunmehr einen Kreisbogen vom Schattenende [M] bis zum Gnomon [Anzeiger N] ziehen, dann wird dieser Bogen ein Sektor des großen Kreises um die Sonnenuhr sein. Wenn wir dann die Geraden der beiden Zeiger durch die Erde projizieren, treffen sie sich im Zentrum der Erde. Der Sonnenstrahl in Syene trifft folglich exakt auf den Erdmittelpunkt [O1 - T]. Wenn wir eine zweite Gerade vom Schattenende des Zeigers [M] in Richtung der Sonne ziehen, indem wir durch die Spitze des Zeigers [P] gehen, wären diese Linie [M - O2] und die bereits genannte [O1 - S] Parallelen. Die Gerade, die vom Erdmittelpunkt zum in Alexandria aufgestellten Zeiger führt [T - A], schneidet beide Parallelen. Sie bildet dabei gleiche Winkel [a1 und a2]. Der eine dieser Winkel [a1] liegt im Erdmittelpunkt, der andere [a2] wird gebildet zwischen Zeiger und Schatten. Auf diesem Winkel liegt der Kreisbogen vom Ende des Zeigerschattens zur Zeigerbasis [M - N], während auf dem Winkel im Erdzentrum der Kreisbogen zwischen Syene und Alexandria gebildet wird [S - A]. Diese beiden Kreisbögen sind sich ähnlich, da sie auf zwei gleichen Winkeln beruhen. Das Verhältnis zwischen dem Kreisbogen der Sonnenuhr [N - M] und dem Umkreis [um P herum] ist das gleiche wie das Verhältnis zwischen dem Bogen von Syene nach Alexandria und dem Gesamtumfang. Der Kreisbogen des Schattens in der Sonnenuhr [N - M] nahm nun den fünfzigsten Teil des zugehörigen Kreises ein. Folglich mußte die Entfernung von Syene nach Alexandria der fünfzigste Teil des Umfangs der Erde sein. Die Entfernung beträgt 5.000 Stadien. Der Kreis mißt demzufolge 250.000 Stadien. Dies ist die Methode des Eratosthenes."

Soweit der faszinierende Text zur Methodik des Eratosthenes, der ergänzt wird durch eine bei Plinius überlieferte Aussage (Naturalis Historia, 1, 183), wonach am Tag der Sommersonnenwende in Syene kein Schatten falle, was durch die völlig schattenfreie Ausleuchtung eines Brunnens durch die einfallenden Sonnenstrahlen belegt sei.

Der konkrete Vorgang der Erdmessung wurde in der Form praktiziert, daß in den beiden Städten metallene, im Inneren mit einer Gradeinteilung versehene Halbkugeln, sogenannte "Skaphe", aufgestellt wurden, an deren senkrechten Zeigern die entstehenden Schatten abzulesen waren, wie ebenfalls von Kleomedes (1, 10, 4) berichtet wird (Vgl. dazu Abb. 2). Wenngleich einige der auch im Text dieses Autors genannten Voraussetzungen der Messung, wie zum Beispiel die Behauptung der Parallelität der Sonnenstrahlen oder die fälschliche Verlegung Syenes und Alexandrias auf denselben Meridian - beide liegen etwa drei Grade auseinander - schlichtweg nicht korrekt sind, so verdient die angewandte Methodik doch aufgrund ihres richtigen mathematischen Ansatzes höchsten Respekt. Was Eratosthenes angesichts des damaligen Wissensstandes gleichfalls nicht in die Betrachtung einbeziehen konnte, ist die Tatsache der Abflachung der Pole der Erde. Er mußte noch von der vollkommenen Kugelgestalt ausgehen.

Gleichwohl sind die von Kleomedes genannten Zahlen der heutigen Erkenntnis nicht unbedingt förderlich. Zum einen nämlich ist die Entfernung von 5.000 Stadien zwischen Syene und Alexandria ganz offensichtlich gerundet. Zum anderen hat Eratosthenes das Ergebnis - vermutlich aus mathematisch - theoretischen Überlegungen heraus - ebenfalls gerundet: Von 250.000 auf 252.000 Stadien (252 = [ 2 x 2 ] x [ 3 x 3 ] x 7). Doch keine der Zahlen erlaubt die korrekte Umrechnung des Ergebnisses in moderne Längeneinheiten aufgrund der Tatsache, daß die Länge des Stadionmaßes von Eratosthenes nicht bekannt ist. So muß man sich mit der Mutmaßung bescheiden, daß die akkurate Arbeitsweise die Entfernung der Städte selbst bei Rundung der Zahl zwar relativ korrekt angegeben haben wird. Letztlich existierten in hellenistischer Zeit mehrere in Verwendung befindliche Stadionmaße wie etwa das olympische mit umgerechnet 192 Metern oder das ptolemäische mit 210 Metern.

Hypothetisch bleibt somit in letzter Instanz auch die in der neueren Forschung des öfteren vertretene Ansicht, Eratosthenes habe ein Stadionmaß von etwa 157,7 (Fissov) oder 157,5 (Kish) Metern benutzt, was umgerechnet einem Erdumfang von 39.740 bzw. 39.690 Kilometern entspräche und dem tatsächlichen Umfang von 40.120 Kilometern sehr nahekommen würde (doch ist an dieser Stelle auf das Faktum hinzuweisen, daß die chronologische Abfolge der Entstehung der eratosthenischen Schriften in der neueren Forschung nicht unumstritten ist).

Ungeachtet also der Frage, wieviele Kilometer den eratosthenischen Stadien entsprechen, bleibt die unumstößliche Bedeutung der Erdmessung als Grundlage und Voraussetzung für die Entstehung der Schrift "Geographika" bestehen.

Die "Geographika"

Dieses wichtigste Werk des Eratosthenes, dessen Inhalte vorwiegend durch die Vermittlung Strabons bekannt sind, war nicht nur Ausdruck individueller Forschungen, sondern vermittelt gleichzeitig einen Eindruck über den wissenschaftlichen Fortschritt in den letzten Jahrzehnten des ausgehenden 3. Jahrhunderts v.Chr.

Denn nicht allein geographisches Interesse war es, das hier in schriftlicher Form dargeboten werden sollte: Geographie bestand aus mehr Komponenten als lediglich Kartographie oder Ökumenographie.

Eratosthenes verstand die geographische Wissenschaft in umfassendem Sinne, als Naturwissenschaft einerseits, die Bereiche wie Astronomie und Mathematik einbezog, als Philosophie andererseits, mittels derer Bereiche wie Geschichte und Literatur Bestandteil des Ganzen wurden.

Die Aufteilung der Darstellung in drei Büchern mit einem gänzlich neuen Titel, "Geographika", war logisch strukturiert. Mit einem historischen Überblick zur Geschichte der Erdkunde seit ihren Anfängen war der Einstieg in die Thematik gegeben. So enthielt das erste Buch die kritische Erörterung der Auffassungen früherer Geographen, durchzogen von eigenen Lehrmeinungen, die Eratosthenes zur Basis seiner wissenschaftlichen Arbeit werden ließ. Um zunächst die Argumente für eine neue Sicht der Geographie zur Geltung zu bringen, kritisierte er Homer, der nach seiner Überzeugung unterhalten, nicht aber belehren wollte (Strabon, C 7).

Ziel war jetzt eine Geographie, die die Erde als Gesamtheit betrachten und nicht, wie vielfach vorher praktiziert, nur die bewohnte Welt, die Ökumene, zum Forschungsgegenstand erklären wollte.

Wie bereits im ersten Buch der "Geographika" wiederholte Eratosthenes auch im zweiten Buch die aufgrund der Erdmessung gesicherte Kenntnis, daß die Erde Kugelgestalt habe. War dieses Buch der allgemeinen Geographie gewidmet, so schuf es die Voraussetzungen für eine weitere Neuerung gegenüber früheren Entdeckungen, die Erstellung einer Erdkarte, wobei er sich erneut auf die Ergebnisse der Erdmessung stützen konnte.

Im dritten Buch schließlich hat Eratosthenes diese Erdkarte der bewohnten Welt, der Ökumene, entworfen. Und auch in dieser Hinsicht waren ihm die bereits seit langer Zeit bestehenden Traditionen griechischer Kartographie dienlich.

Eine herausragende Bedeutung hatte in der damaligen Zeit die Frage nach der Lage der Ökumene auf der Erde. Nach den Vorstellungen der ionischen Naturphilosophie war die bewohnte Welt eine Insel im Weltmeer, und ähnlich hat sich auch Eratosthenes geäußert. Strabon (C 56) schreibt: "Denn selbst nach Eratosthenes flösse das ganze äußere Meer zusammen, so daß das westliche und das Rote Meer eines sind. Nachdem er dies gesagt hat, fügt er noch die Folgerung hinzu, daß das Meer außerhalb der Säulen [gemeint sind die "Säulen des Herakles" = Straße von Gibraltar] und das Rote und auch das mit diesem zusammengeflossene innere Meer gleiche Meereshöhe haben". Somit hatte auch Eratosthenes sich für eine Insellage der bewohnten Welt ausgesprochen, wobei einige bemerkenswerte Zusätze erwähnt werden müssen.

Im Kontext mit der Weltmeerfrage und der Ökumene schreibt Strabon (C 62), Eratosthenes habe gemeint, daß die Erde unter Zugrundelegung der Erdkugelgestalt ringsum bewohnt sei! Und nicht zuletzt findet sich bei Strabon jene Passage, deren Nachwirkung beträchtlich werden sollte (C 64): "Die gemäßigte Zone bildet einen in sich selbst zusammenlaufenden Kreis, so daß wir, wenn nicht die Größe des atlantischen Ozeans es verhinderte, auf derselben Parallele von Iberien bis nach Indien fahren könnten".

Die solchermaßen von Eratosthenes niedergeschriebenen Erkenntnisse lassen zumindest die Vermutung nicht ganz abwegig erscheinen, auf ihn die später auch von Strabon (C 118) befürwortete Annahme zurückzuführen, wonach eine "andere bewohnte Welt" denkbar sei.

Im Zusammenhang mit der Berechnung des Erdumfangs stellte sich die dringende Frage, welche Entfernungen zwischen einzelnen Orten, Ländern und insbesondere den bekannten Endpunkten der Ökumene bestünden. So war zunächst ein Weg zu finden, der die Berechnung der Breite, d.h. der Distanz zwischen nördlichstem und südlichstem bekannten Ende der Erde, ermöglichte. Eratosthenes bediente sich hierzu der gängigen Maßeinheit der 4.200 Stadien messenden Hexekontade, was für die Entfernungsberechnung vom Äquator zum Nordpol (analog natürlich auch zum Südpol) zu einem Ergebnis von fünfzehn Hexekontaden oder 63.000 Stadien als einem Viertel der Gesamtumfangs der Erde mit 252.000 Stadien führte. Die Meßgröße der Hexekontade teilte Eratosthenes wiederum in sechs Untereinheiten, was eine Einteilung der Erde in 360 Meridianeinheiten mit der heute noch geltenden Gradzahl zur Folge hatte. Ein Grad hatte demzufolge ein Maß von 700 Stadien.

Lassen wir zum Meßvorgang selbst erneut Strabon (C 63) zu Wort kommen (die Details lassen sich anhand der Rekonstruktion der Erdkarte in Abbildung 3 nachvollziehen): "Daraufhin bestimmte er [Eratosthenes] die Breite der bewohnten Erde und behauptet, daß von Meroe aus auf dem durch dasselbe gezogenen Meridian bis nach Alexandria 10.000 Stadien sind. Von da bis zum Hellespont etwa 8.100; weiter bis zum Borysthenes 5.000 Stadien. Ferner bis zu dem Meridian durch Thule (von welchem Pytheas sagt, es liege sechs Tagesfahrten nördlich von Britannien und sei dem Eismeer nahe) weitere 11.500 Stadien. Setzen wir nunmehr oberhalb von Meroe noch 3.400 Stadien hinzu, damit wir auch die Insel der Ägypter, das Zimtland und Taprobane [= Sri Lanka] mit umfassen, so werden es insgesamt 38.000 Stadien sein".

Eratosthenes hatte mit dieser Methode eine Breite der bewohnten Regionen der Erde von 38.000 Stadien errechnet, und es ist erstaunlich, daß er ausgerechnet den durch die ägyptische Hauptstadt Alexandria von ihm angenommenen Meridian als die größte nord-südliche Ausdehnung der bewohnten Welt ansah. Völlig im Ungewissen läßt Strabon uns hinsichtlich der Frage, welche Vorstellung Eratosthenes von der Erdhälfte südlich des Äquators hatte.

Wenngleich Eratosthenes sich darin geirrt hatte, daß die im Strabon-Text genannten Orte auf einem Längengrad liegen, entspricht nach modernen Berechnungen die geographische Lagebestimmung vor allem der Orte in Ägypten und Afrika ziemlich genau den tatsächlichen Gegebenheiten.

Doch die Bestimmung der Breite konnte nur einen Teil des zu erstellenden Kartenwerkes bilden, und die Berechnung der Ost-West-Entfernungen stand noch aus.

Abermals ist es Strabon, dessen Geographie die diesbezüglichen Informationen liefert (C 67 - 68): "Im dritten Buch seiner Erdbeschreibung entwirft Eratosthenes eine Karte der bewohnten Erde und teilt sie durch eine von Westen nach Osten mit dem Äquator parallel laufende Linie in zwei Teile. Als Endpunkte dieser Linie nimmt er im Westen die Säulen des Herkules, im Osten die Landspitzen und äußersten Berge der Indien auf der Nordseite begrenzenden Gebirge an".

(C 133): "Die Parallele durch das Zimtland aber verläuft auf der einen Seite etwas südlicher als Taprobane oder zumindest auf die äußersten Bewohner, auf der anderen Seite aber durch die südlichsten Gegenden Libyens (...).

Die Parallele durch Meroe führt auf der einen Seite durch völlig unbekannte Länder, auf der anderen Seite durch die Südspitzen Indiens (...).

Die Parallele durch Syene geht auf der einen Seite durch das Land der Ichthyophagen in Gedrosien und durch Indien, auf der anderen durch die fast 5.000 Stadien südlicher als Kyrene gelegenen Länder (...).

Die Parallele durch Alexandria führt auf der einen Seite durch Kyrene und die um 900 Stadien südlicher als Karthago gelegenen Gegenden bis mitten durch Maurusien, auf der anderen Seite durch Ägypten, Koilesyrien und Obersyrien, durch Babylonien Susiana, Persien, Karamanien und das obere Gedrosien bis hin nach Indien. (...).

Die Parallele durch Rhodos geht nach Eratosthenes durch Karien, Lykaonien, Kataonien, Medien, die Kaspischen Pforten und die Inder am Kaukasus (...).

Die Parallele durch Lysimacheia, von der Eratosthenes behauptet, daß sie durch Mysien, Paphlagonien, durch die Gegend von Sinope, durch Hyrkanien und Baktrien laufe."

Mittels des systematischen Gradnetzes und der Aufteilung der Ökumene durch eine Parallele zum Äquator in zwei Teile (Nord und Süd), die gewissermaßen eine Art Breitengrad darstellte und die Eratosthenes von einem seiner Vorgänger, Dikaiarch, übernommen hatte, war das Grundschema fixiert. Insgesamt konstruierte er sieben Parallelen und konnte durch die Angabe der Einzelentfernungen nunmehr das Gesamtkartenwerk der Erde vollenden.

Diese Einzeldistanzen in Ost-West-Richtung setzten sich nach Strabon (C 64) wie folgt zusammen: "Daher sagt er [Eratosthenes], die schmalste Strecke Indiens bis zum Indus messe 16.000 Stadien (wobei bis zu den Vorgebirgen noch 3.000 anzufügen seien) Von hier bis zu den Kaspischen Pforten seien es 14.00 Stadien; ferner bis zum Euphrat 10.000, vom Euphrat bis zum Nil 5.000. Weitere 1.300 bis zur kanobischen Mündung. Bis Karthago dann nochmals 13.500 Stadien, und von hier bis zu den Säulen des Harakles 8.000. Hinzu müsse man aber noch jenseits der Säulen die den Iberern gegenüberliegende und nach Westen verlaufende Krümmung Europas mit nicht weniger als 3.000 Stadien fügen. Ferner ergänzt er die genannten Entfernungen nach Westen und Osten jeweils mit weiteren 2.000 Stadien, um seine Behauptung zu bestärken, die Breite der Ökumene betrage nicht mehr als die Hälfte der Länge".

Die von Strabon überlieferen Angaben des Eratosthenes bezeichneten zugleich die von letzterem angenommenen Meridiane, von denen der erste durch den Indus gebildet wurde. Der zweite lag an den Kaspischen Toren und verlief durch die Öffnung des Persischen Golfes zum Indischen Ozean hin. Der dritte Meridian verlief durch Thapsakos, während der vierte, der Hauptmeridian durch Alexandria führte. Ein weiterer, von Strabon (C. 93) heftig kritisierter Meridian, war von Eratosthenes von Rom über Sizilien und Karthago nach Kerne verlegt worden.

Die Konzeption der Entfernungsangaben im Gradnetz der Erde ermöglichte es in der Folge, die Erdkarte, die gleichzeitig Beweis für die Insellage der Ökumene sein sollte, zu konstruieren.

Die Kartographie orientierte sich streng an der Kenntnis von morphologischen Gegebenheiten, die unter anderem durch die Berichte über Küstenbefahrungen bekannt waren. So bildeten in erster Linie Küstenverläufe, Flüsse, Gebirge und Städte Anhaltspunkte für die Kartierung der bekannten Welt, und hier war naturgemäß der Mittelmeerraum am besten erforscht.

Gerade die Flüsse sind es gewesen, die für die Zeichnung der Erdkarte die besten Orientierungen boten, und es ist nur konsequent, wenn - wie dies in modernen Kartenwerken in gleicher Weise hervorsticht - die großen Flüsse Indus, Ganges, Nil und Donau als die bekanntesten Wasserwege eines der Gerüste der eratosthenischen Kartographie bildeten.

Die Kontinente Europa, Asien und Afrika sind, wie bereits erwähnt, im Großbereich um den Mittelmeerraum herum relativ gut dokumentiert, was für entferntere Regionen gleichwohl nicht der Fall ist. Die Küste Libyens (= Afrikas) beispielsweise ließ Eratosthenes hinter der Meerenge von Gibraltar bis zur Südspitze des Kontinentes in südöstlicher Richtung verlaufen, so daß Afrika als rechtwinkliges Dreieck dargestellt worden war, in dessen Süden die Nilquellen lokalisiert waren. Die recht ungenaue Kenntnis des südlich des Äquators gelegenen afrikanischen Raumes ist zumindest hinsichtlich der Tatsache verwunderlich, daß der Küstenverlauf im Westen seit der Zeit des Karthagers Hanno, der über 200 Jahre vorher eine Flottenexpedition bis in zentralafrikanische Küstennähe durchgeführt hatte, nicht unbekannt gewesen sein dürfte.

Ein weiterer höchst interessanter geographischer Bereich ist die Region von Arabien bis nach Indien. Dem persischen Golf hatte Eratosthenes eine runde Gestalt verliehen und seine Lage an den Wendekreis verlegt. Außerhalb des Golfes ließ er die Küste in östlicher Richtung verlaufen und ebenso die gesamte indische Küste bis zu einem Taprobane gegenüber gelegenen Landvorsprung, wo nach Aussage Strabons (C 89) das Volk der Coniaci gewohnt haben soll. Dieser Vorsprung lag nach Eratosthenes auf der Breite von Meroe, während Taprobane selbst, das mit einer Ausdehnung von 8.000 Stadien angegeben wird, auf gleicher geographischer Breite gelegen haben soll wie die Zimtküste in Afrika. Von den Coniaci ließ Eratosthenes den Verlauf der Küste in nördlicher Richtung bis zur Mündung des Ganges zeichnen und von hier aus weiter bis zu dem - heute nicht mehr zu identifizierenden - Vorgebirge Tamaros, welches gleichzeitig das Ende der bekannten Welt im Osten bildete.

Über Indien selbst findet sich ein ausführlicher Bericht bei Strabon, aus dem hervorgeht, daß Eratosthenes seinerseits sich auf Informationsquellen allererster Güte verlassen hatte. Es standen ihm unter anderem die Werke eines Daimachos sowie des Megasthenes, der als Grieche und Gesandter des seleukidischen Herrscherhauses die erste ausführliche Landeskunde über Indien im frühen 3. Jahrhundert v.Chr. geschrieben hatte, zur Verfügung.

Von der zuletzt erwähnten äußersten Nordostecke Indiens aus stellte sich Eratosthenes die Aufgabe, den weiten und im wesentlichen nicht erforschten Bereich des Nordens zu kartographieren. Diese fehlenden Forschungen und Kenntnisse machten es notwendig, eine Hilfslinie von Osten nach Westen durch das riesige Gebiet der Skythen zu konstruieren, die in gewölbter Form in die Karte eingetragen wurde.

Obgleich ein gewisser Patroklos im Auftrag des seleukidischen Dynastiegründers Seleukos I. das Kaspische Meer befahren hatte, so waren durch seine Fahrten dennoch lediglich die südlichen Bereiche dieses Binnenmeeres bekannt, was zur Folge hatte, daß Eratosthenes das Kaspische Meer für einen Meerbusen des nördlichen Ozeans hielt und dementsprechend mit einer Einbuchtung in nord-südlicher Richtung kartierte.

Für die Zeichnung Europas in den Regionen außerhalb des Mittelmeeres benutze Eratosthenes den Reisebericht des Pytheas, auf dessen Nachrichten sich die Kartierung von Spanien, Gallien und Britannien, einer in der Form eines stumpfwinklig geformten Dreiecks gedachten Insel, gründete.

Den geographischen Abschluß im Norden Europas bildete das bis zum heutigen Tage sagenumwobene Thule, dessen Identifizierung wohl auch für die Zukunft ein Rätsel bleiben wird.

Daß die Erstellung der Erdkarte auf der Basis von Quellen naturwissenschaftlicher Art (Astronomie, Mathematik, Geologie und anderer Bereiche) einerseits und der Verwertung von Nachrichten aus dem Gebiet der sogenannten Küstenbeschreibungen andererseits neben der Erdmessung die anerkannteste wissenschaftliche Leistung des alexandrinischen Gelehrten werden und bleiben sollte, steht außer Zweifel.

Dennoch stellt sich gerade angesichts der besprochenen Errungenschaften eine Frage, deren Beantwortung Hypothese bleiben muß und auf die noch einige Sätze zu verwenden sind.

Nach gegenwärtigem Forschungsstand soll im 2. vorchristlichen Jahrhundert ein gewisser Krates von Mallos, der in Diensten des pergamenischen Königs Eumenes II. stand, als erster und möglicherweise einziger Mensch der Antike einen Erdglobus konstruiert haben, wie Strabon zu berichten weiß (C 116).

Wir stehen mit dieser Nachricht dem erstaunlichen Faktum gegenüber, daß die behauptete Singularität im Kontrast zu der gesicherten Kenntnis zu sehen ist, wonach in der Antike mehrfach Himmelsgloben für die räumliche Darstellung des Sonnensystems gefertigt worden sind.

Ist es nicht denkbar, einem Wissenschaftler mit derart weit gefächertem Wissen wie es Eratosthenes besaß, auch den Versuch zuzutrauen, ein Modell der Erdkugel zu konstruieren, und zwar auf der Grundlage aller seiner vorangegangenen geographischen Forschungen? Oder anders formuliert: Kann man sich ernsthaft mit dem Gedanken anfreunden, Eratosthenes hätte sich mit der Messung des Erdumfangs, dem mathematisch - naturwissenschaftlichen Nachweis der Kugelgestalt der Erde und der arbeitsaufwendigen Erdkartographie als Endergebnis begnügt? Wie hätte er in diesem Falle die unauflösbare Diskrepanz zwischen Kugeldarstellung und Zeichnung auf flacher Ebene überbrückt? Erinnern wir uns der bekannten Erscheinung - und der Behaim-Globus (Kat.-Nr. 3.31) bietet hierfür das herausragendste Beispiel - welche Schwierigkeiten der Versuch mit sich bringt, eine auf eine glatte Fläche gezeichnete Karte auf ein Modell der Erdkugel durch Aufkleben o.ä. zu übertragen. Lassen wir auch zu diesem Problem Strabon zu Wort kommen (C 116): "Wer aber durch ein plastisch gearbeitetes Abbild die Wirklichkeit so genau als möglich nachahmen will, der muß eine die Erde darstellende Kugel, wie die des Krates, fertigen, muß auf ihr das Viereck abschneiden und innerhalb desselben die geographische Karte entwerfen. Weil es aber einer großen Kugel bedarf, damit der erwähnte Abschnitt, der nur ein sehr kleiner Teil derselben ist, dazu geeignet ist, die betreffenden Teile der bewohnten Erde deutlich wiederzugeben und den Betrachtern einen richtigen Überblick zu gewähren, so ist es das Beste für den, der solches vorhat, sich eine so große Kugel zu besorgen. Im Durchmesser darf sie nicht weniger als zehn Fuß haben. Wer eine so große oder etwas kleinere Kugel nicht zur Verfügung hat, der muß seine Zeichnung auf einer ebenen Tafel von wenigstens sieben Fuß entwerfen".

Sollte Eratosthenes nur eine dieser beiden zitierten Möglichkeiten, nämlich die Kartierung auf ebener Fläche, in Betracht gezogen haben und damit weit hinter dem Wissensstand Strabons zurückgeblieben sein? Sollte er die Kugelgestalt nur in theoretischer Hinsicht postuliert haben, ohne sich eine konkrete Vorstellung der Verteilung von Land- und Wassermassen, von bewohnter und unbewohnter Welt, von der Lage der Eis- und Hitzezonen, von Entfernungsrelationen in Maßstabsgröße ausbilden zu können? Ist einem Naturwissenschaftler seiner Güte, der die Schiefe der Ekliptik als den 15. Teil des Meridians, also vier Hexekontaden oder 24 Grad, befürwortete, die Kurzsichtigkeit zuzutrauen, vor dem entscheidenden letzten Schritt haltzumachen und sich mit dem Erkannten zu begnügen?

Alle hier im Kontext mit dem Erdkugelmodell gestellten Fragen lassen selbst bei völligem Fehlen entsprechender Quellenbelege die berechtigte Annahme zu, daß schon vor Krates von Mallos ein Modell der Erdkugel konstruiert worden ist, nämlich von Eratosthenes. Dieses stünde dann als konsequente Synthese der akribischen Erdmessungen und der umfassenden Erdkartographie des alexandrinischen Gelehrten und würde den Bogen zum Globus des Martin Behaim schlagen.

Auswahlbibliographie

Hugo Berger: Die geographischen Fragmente des Eratosthenes. Leipzig 1880. - Hugo Berger: Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde der Griechen. Leipzig 1903. - A. Fissov: Eratosthenes' Calculation of the Earths Circumference and the Length of the Hellenistic Stade. In: Vestnik Drevnej Istorii 1972, S. 154-174. - John Brian Harley und David Woodward (Hrsg.): The History of Cartography, Bd. I: Cartography in Prehistoric, Ancient, and Medieval Europe and the Mediterranean. Chicago - London 1987. - Aloysius L'Heureux: La Géographie d'Ératosthène. In: Les Études Classiques 12, 1943, S. 33-55. - Eckart Olshausen: Einführung in die historische Geographie der Alten Welt. Darmstadt 1991. - Amédée Thalamas: La Géographie d'Ératosthène. Paris 1921. - Christian van Paassen: The Classical Tradition of Geography. Groningen 1957. - Eric Herbert Warmington: Greek Geography. London - New York 1934.

(Abb. 1 und 2: Richard Goulet: Cléomède, Théorie élémentaire. Paris 1980, S. 245 und 246; Abb. 3: Eckart Olshausen: Einführung in die Historische Geographie der Alten Welt. Darmstadt 1991, Karte 4)

Abbildungslegenden

(Abb. 1) Berechnung des Erdumfangs nach Eratosthenes

(Abb. 2) Schema einer "Skaphe" zur Erdmessung

(Abb. 3) Rekonstruktion der Karte des Eratosthenes


Last modified: Sun Jun 15 12:04:55 CEST 2008